Ganz Ohr sein
Ganz Ohr sein
Ehemals hatten die Philosophen Furcht vor den Sinnen: haben wir – diese Furcht vielleicht allzusehr verlernt? [...] „Wachs in den Ohren“ war damals beinahe Bedingung des Philosophierens; ein echter Philosoph hörte das Leben nicht mehr, insofern Leben Musik ist, er leugnete die Musik des Lebens – es ist ein alter Philosophen-Aberglaube, dass alle Musik Sirenenmusik ist. (Friedrich Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft, Nr. 3721)
Menschliches Raunen
Fast unscheinbar steht das Ohrenrelief im Museum für Kunst und Gewerbe in einer Vitrine der neu gestalteten Antikensammlung: 29 cm hoch, 24 cm in der Breite und aus graubraunen Marmor. Dieses griechische Weiherelief reiht sich durch eine großzügige Schenkung, in die Sammlung des Museums ein. Was in der Ausstellung singuläre Bewunderung hervorruft, evoziert aber eine Vielzahl von Fragestellungen, die einige Grundmotive für den Aufsatz andeuten. Worauf verweisen zwei reliefartig ausgearbeitete Ohren? An welchen Orten und zu welchem Zweck wurden sie hergestellt und nicht zuletz: Welche Bedeutung hatte das Hören in der antiken Welt?
Schon im 19. Jahrhundert gab es die Erkenntnis, dass „viele Götter in kaiserlichen Inschriften und Papyri das Epitheton έπήκοος trugen, d.h. ‚der Hörende‘ oder ‚der die Gebete hört‘.“ Die in diesen Texten beschriebenen Darstellungen werden nicht als Gliederweihungen gedeutet, sondern als Symbole, die das Ziel hatten, den Göttern für die Erhörung zu danken oder für Bevorstehendes gnädig zu stimmen.
Eine summarische Darstellung der bekannten Plastiken sowie der Versuch einer ersten Systematisierung gehen auf den Philologen Otto Weinreich zurück. In seiner 1912 erschienenen, grundlegenden Studie ΘΕΟΙ ΕΠΗΚΟΟΙ4 beschreibt er die unterschiedlichen Formen der einzelnen Votivplatten und stellte alle ihm bekannten Inschriften zusammen, in denen die Götter als „erhörend“ beschrieben werden. Weinreich greift die Systematisierung in Gliederweihungen und die Deutung als Symbol für hörende Götter auf. Er geht in seiner Systematisierung noch einen Schritt weiter und stellt fest, dass die symbolischen Bezüge der Ohren auch einen topographischen Ort bezeichnen können, an dem man glaubte, dass die Götter einen erhören. Weinreich argumentierte für diese – seinerzeit umstrittene - These mit der Deutung zweier Inschriften, dass es in den „Asklepieia von Epidauros und Pergamon bestimmte άκοαί genannte Stellen gab“, an denen Darstellungen des Ohres angebracht waren. Das Problem dieser Systematisierung bestand in der Zuordnung, denn eine künstlerische Unterscheidung ist nicht ersichtlich.
Jemandem etwas „ins Ohr flüstern“ ist als ein intimes, vor „fremden Ohren“ geschütztes Sprechen zu lesen. Es ist die besondere Nähe des Sprechenden und Hörenden, die diese Kommunikation ausmacht und in deren Form die Worte ohne Umweg den Empfänger erreichen - ein Moment des privaten Zwiegespräches, das bei Kindern gut zu beobachten ist. Seneca tadelt die naive Auffassung der Menschen, „sich beim Kirchendiener die Erlaubnis zu erbetteln, zum Götterbild gehen zu dürfen“, um diesem die Bitten direkt ins Ohr zu sagen. Die Geste des „Ins-Ohr-Flüsterns“ beschreibt Weinreich als ein eng mit den Gebärden des antiken Gebets verknüpftes Vorgehen. Die himmlische Anbetung geschieht gemeinhin nach oben, wohingegen die Ansprache der unterirdischen Gottheit durch ein Senken zum Boden und durch das Knien auf dem Boden geschieht. Die göttlichen Ohren waren in einer Höhe angebracht, dass sie vom Betenden erreicht werden konnten. Diese Tatsache könnte die gestische Handlung des Ins-Ohr-Flüsterns unterstreichen.
Eine andere Möglichkeit, von den Göttern erhört zu werden oder sie für das eigene Bitten gnädig zu stimmen, war, ihnen Stelen mit Ohren zu stiften. Diese Sitte verbreitete sich besonders mit dem Kult um ägyptische Gottheiten. Ein gestiftetes Votiv kann aber auch für die Heilung eines Ohrenleidens gedeutet werden. Von diesen Heilvotiven ist eine beträchtliche Anzahl erhalten geblieben und wissenschaftlich aufgearbeitet. Die Nachbildung von Gliedmaßen und anderen Körperteilen – z.B. Füßen, Brüsten u.a. – zu opfern, ist besonders im Umfeld des Asklepioskultes anzutreffen.
Asklepios ist der Gott der Heilkunst. Als Sohn von Apollon und Koronis wurde Hermes aus dem Leib der toten Mutter gezogen und zu Cheiron gebracht, der ihn aufzog und in der medizinischen Heilkunst unterwies. Die Schlangen waren Asklepios heilig. Als unvergleichlicher Arzt mit magischen Kräften wurde er allseits verehrt. Die Heilbehandlung bestand darin, dass der Kranke in besonderen Tempeln, die sich vor den Toren der Stadt befanden, nächtigte. Im Traum erschien dann der Arzt und gab dem Patienten salutogene Anweisungen, die zur Genesung führen sollten. Hippokrates soll seine medizinische Ausbildung in Kos, einer der berühmtesten und heute noch zu besichtigenden Heilstätten, erhalten haben.
Ein solches Weiherelief ist auch das, welches von den hessischen Truppen, die unter dem Befehl des Grafen von Königsmarck 1687 die Akropolis einnahmen, dort gefunden und mit nach Deutschland gebracht wurde. Der vermutliche Fundort ist das Asklepieion an der Akropolis in Athen, da sich die Truppen hautsächlich dort aufhielten. Der geglättete Reliefgrund könnte eine gemalte Inschrift getragen haben, die aber heute nicht mehr zu entziffern ist.
Seit 1990 wurden im milesischen Aphroditeheiligtum von Oikus systematisch Grabungen durchgeführt. Die Grabungskampagnen 2006 und 2007 brachten mehr als 30 beschriftete und anepigraphe Votivplatten und -stelen ans Tageslicht – allerdings nicht in situ, sondern in einer Füllschicht gefunden. Viele von ihnen tragen außer der Weihinschrift ein Ohr oder Ohrenpaar im Relief. Die Formulierung der Weihinschriften, die nach den Buchstabenformen in die Zeit vom 2. Jahrhundert v. Chr. bis in das 2. Jahrhundert n. Chr. gehören, ist stereotyp auf drei Zeilen verteilt: „N. N. Ἀφροδίτῃ“. Die Weihungen gelten also der Aphrodite als einer „erhörenden“ (ἐπήκοος) Gottheit. Damit handelt es sich bei diesen Funden also nicht um Gliederweihungen. In drei Inschriften der neu gefundenen Votive ist der Dedikantenname erhalten geblieben. Mit den bereits publizierten Weiheinschriften ergibt sich der Umstand, dass dies ausschließlich weibliche Namen sind und somit nur Frauen als Dedikantinnen in Frage kamen. Für die archaische Zeit sind hingegen auch Männer als Dedikanten in Oikus belegt. Wahrscheinlich kann man aus den neuen Marmorvotiven eine gegenüber den früheren Epochen veränderte Klientel und Votivpraxis herauslesen. „Mit diesen Votiven ist die ‚erhörende‘ Aphrodite gemeint, die einen Wunsch des Gläubigen erfüllt bzw. auf eine Anrufung positiv reagiert hat; die dankbare Dedikantin, die zuvor die Stiftung eines Votivs gelobt hat, löst nun ihr Versprechen ein, indem sie Aphrodite die Platte bzw. Stele weiht.“
Neben den kleinen Marmorplatten, auf denen die Ohren dargestellt werden, gibt es auch solche, die aus Bronzeblech, Silber oder Gold getrieben wurden. Für die Prädomination von Marmor spricht die relativ preiswerte Möglichkeit, besonders in der ägäisch-westanatolischen Region, an diesen Rohstoff zu kommen. In der späthellenistischen und römischen Zeit wurde dieser Rohstoff auch für private Personen erschwinglich. Forsén beschreibt, dass die Gliederweihungen des ägäischen Typus erstmalig in Attika im 4. Jh. v. Chr. hergestellt wurden und sich dann allmählich über Athen ausbreiteten und in der römischen Zeit mit Ausnahme des Nordens im gesamten ägäischen Raum anzutreffen waren. Die Entscheidung, welche Bedeutung die dargestellten Ohren haben, ob Gliederweihung oder als direkter auditiver Götterzugang, ist letztendlich nicht zu treffen. Die Fundumstände sowie die Interpretation von Inschriften sind unerlässliche Quellen, können aber als endgültiges Votum für das Eine oder Andere nicht dienen. Der von Weinreich vorgeschlagene – und von van Straaten weitergeführte – Weg, alle ägyptischen und orientalischen Götter, die mit dem Epitheton έπήκοος versehen sind, als Symbole des Göttlichen aufzufassen, hingegen die in Asklepieia und in Stätten anderer Heilgottheiten gefundenen Ohrenreliefs als Gliederweihungen anzusehen, wird bei allen Bedenken auch heute noch beschritten.
Göttliches Rauschen
„Dir müssen ja die Ohren geklungen haben.“ – sieben Worte, die umgangssprachlich einen Gesprächspartner die Ohren spitzen lassen. Dieses episodische Ohrenklingen deutet eine imaginäre Verbindung an. Die Redensart meint, dass andernorts über einen gesprochen wurde. „Dabei gilt auch hier der alte Glaube an die günstige Bedeutung alles dessen, was rechts, an die ungünstige dessen, was links von einem geschieht: Klingt das rechte Ohr, so wird Gutes von einem gesprochen, klingt das linke, glaubt man an üble Nachrede oder abenteuerlicher ausgedrückt: ‚Recht Ohr – schlecht Ohr‘; ‚Link' Ohr – Klingohr‘.“ Mit dem „bedeutungslosen Schall schließt der Einzelne an das bedeutungsvolle große Ganze an.“ Ob gut oder schlecht, die vornehme Umschreibung „Klingen“ entpuppt sich in der zeitgenössischen medizinischen Forschung mehr als Klingeln oder Rauschen und ist in einer stärker orchestrierten Variante zusätzlich mit einem Pfeifton versehen. Die geplagten Zeitgenossen leiden unter einen Tinnitus aurium. Babylonische Keilschriften und ägyptische Papyri kennen das Wort Tinnitus noch nicht, aber das Symptom war ihnen bekannt und wurde als „Ohrenklang“ beschrieben. „Wenn die Ohren schreien“, heißt es in altorientalischen Keilschriften und wird auch als das häufigste Ohrenleiden im alten Mesopotamien bezeichnet, denn keines wird öfter erwähnt und für keines wurden mehr Remeduren geschrieben. Im 7. vorchristlichen Jahrhundert galten die leidenden Personen als von „bösen Geistern“ ergriffen. Alternativmedizinische Kompressen aus Zedernsaft und Myrrhe galten als therapeutische Wahl. Aber die Zeiten änderten sich: Es dauerte dreihundert Jahre und das Rauschen im Ohr wurde als die „Sprache der Götter“ diagnostiziert. Ein befallener Junge, so ist aus einem demotischen Papyri zu erfahren, eigne sich hervorragend als Medium, weil er auf die Beschwörungsformeln des Magiers reagiere. Klang und Rauschen der ehemals bösen Geister war nun zum Medium des Numinosen transformiert. Das antike Griechenland ordnete den Tinnitus also göttlichem Ursprung zu, betrachtete ihn als eine Art göttliche Einflüsterung. Aber auch mit allzu Menschlichem scheint der Tinnitus in Verbindung zu stehen. In der wahrscheinlich berühmtesten Ode – Fragment 31 V. – der 612 v. Chr. geborenen Sappo (612- 560 v. Chr.) heißt es: [...] mir ist die Zunge gelähmt, ein feines/ Feuer unterläuft die Haut urplötzlich;/ [...] ein Dröhnen/ Füllt mir die Ohren,/ und der Schweiß rinnt nieder, und meinen ganzen/ Leib befällt ein Zittern [...]
Die lesbische Dichterin Sappo hört ein Dröhnen in den Ohren, als sie eine ihrer Schülerinnen sah, wie sie sich mit einem Jüngling einließ. Damit wird ein Katalog der Liebesschmerzpoesie angelegt, dessen Inhalt sich auch in der Gegenwart niemand entziehen kann. Das leidenschaftliche Gedicht wurde vom römischen Dichter Catull (84 v. Chr. - 54 n. Chr.) aus gegebenem Anlass aufgegriffen und mit eigenen Worten niedergeschrieben. Das Dröhnen in den Ohren wird durch ein visuelles „schwarz vor Augen“ erweitert. Der Grund war ähnlich: Ein abtrünniger Knabe ließ sich mit einem Mädchen ein.
Pythagoras von Samos (570-510 v. Chr.) hat nicht nur für die Musik unschätzbare Dienste geleistet, sondern aus seiner Schule stammen auch signifikante Dokumente zum Tinnitus. Pythagoras hat seine Lehre vornehmlich über sogenannte Akusmata , ἀκούσματα, Hörsprüche verbreitet. Dabei handelt es sich um Definitionsfragen, Lebensregeln und deren dazugehörigen Antworten. Auch nach dem Tod des Lehrmeisters übte die Pythagoreische Schule großen Einfluss aus. Innerhalb der Schüler entwickelten sich in der Folge zwei Gruppen: die Akusmatiker und die Mathematiker, deren Auseinandersetzung sich im 4. Jh. v. Chr. besonders zugespitzt hatte – also in der Zeit, aus dem das Hamburger Weiherelief stammt. Erstere stellten die Hörsprüche des Meisters und deren genaue Befolgung in den Mittelpunkt. Die Mathematiker hingegen maßen diesem Aspekt der Lehre geringere Bedeutung zu und sahen es als ihre Hauptaufgabe, den Pythagorismus naturwissenschaftlich zu durchdringen. Eines dieser Akusmata lautet: „Das Echo, das mitunter unsere Ohren befällt, sei die Stimme des Besseren“, καί ο πολλάκις εμπίπτων τοίς ωσίν ηχος των κρειττόνων. Das Echo, ηχος, ist das Wort, das auch noch 150 Jahre später von Hippokrates – um 460 bis um 310 v. Chr. – für den Tinnitus verwendet worden ist. Das Echo setzt ein Gegenüber voraus und impliziert, dass es sich nicht um ein Geräusch handelt, das innerhalb des Gehirns entstanden sein kann. Vielmehr ist es im Ohr und noch nicht in einen spezifischen Bewusstseinsraum vorgedrungen. Das Ohr wird also zum Echoraum göttlicher Eingebung. Es zeigt aber auch das Ephemere des Göttlichen, weil das Ohrenecho nur noch den Nachhall des Gesprochenen darstellt.
Die Spur des Hörens
Wie bestimmt aber das Hören das Dasein des Menschen, wie artikuliert er die Eindrücke außerhalb von Musik? Der akustische Sinnesbereich der Antike ist aus nachvollziehbaren Gründen nur über Umwege erfahrbar. Neben den Rekonstruktionsversuchen in der Musik und im Instrumentenbau liefert allerdings die Literatur erstaunliche Hinweise. Um fündig zu werden, ist jedoch auch hier der Weg das Ziel oder besser: Der Umweg ist das Ziel. Es gilt, bei der Lektüre akustische Geschehnisse „hinzuzuhören“, obwohl der Dichter diese nicht erwähnt: crescendi und decrescendi mitzudenken, obwohl der Dichter diese nicht explizit benennt. Bei der Deutung von akustischen Anschauungen und tonpsychologischen Vorstellungen kommt es damit zu unweigerlichen Überschneidungen: „Scharfes Hören“ unterscheidet sich von „scharfen Tönen“, das Nachlassen einer Saitenspannung führt zu einem tieferen Ton, bei der Stimme dagegen zu einem leiseren Ton. Die Umwelt ist voll von Geräuschen, die so auch im literarischen Schaffen vorkommen. Sie sind deshalb interessant, weil sie für ein Lauschen und Horchen derer stehen, welche diese aufgeschrieben haben. Die Geräusche haben über ihren eigenen akustischen Wert einen Bedeutungsgehalt, der sowohl auf kompositionelle Hintergründe als auch auf eine bestimmte Welterfahrung der Dichter hinweisen.
Als Beispiel sei auf die griechische Tragödie hingewiesen. Die akustischen Aspekte beziehen sich hier auf die Raumaufteilung zwischen Bühnenhaus und Orchestra sowie auf die „Ortsveränderungen der Darsteller auf der Bühne, auf Suchhandlungen, Schlafszenen und Blindenauftritte. [...] Hören, Schweigen und abgestufte Lautstärke haben ihre wichtigste dramatische Funktion im Spiel von Verhüllung und Enthüllung. [...] Dem auftretenden Blinden muß die hörbare Welt die sichtbare ersetzen, wodurch das akustische Sinnesgebiet eine wichtige Ersatzfunktion übernimmt.“
Die antiken Theatermasken dienten nicht nur der Charakterisierung der einzelnen Figuren, sondern auch der Sprachverstärkung. In den Masken aus Terrakotta oder Holz befanden sich Mundstücke in Trichterform, die je nach Rolle bestimmte Bereiche verstärkten. Besonders die für das Sprachverstehen wichtigen Töne gewannen dadurch an Schärfe und Durchsetzungskraft. Die allgemeine Architektur einer antiken Theaterstätte tat das Übrige hinzu, um diesen akustischen Eindruck zu intensivieren.
Was auf der Bühne einem ästhetischen Spiel folgt, ist aber auch im politischen Alltag von grundlegender Bedeutung. Die Grundvoraussetzung, damit ein Redner gehört werden kann, ist die Unterbindung jeglicher akustischer Beeinträchtigungen. Nur so wird er erhört. Der Redner kann seine Ausführungen aber auch durch das bewusste Einsetzen von Geräuschen akustisch grundieren und einzelne Ausführungen akzentuieren. Ein Meister hierin war z.B. der Historiker Thukydides (454-396 v. Chr.). Das Hinhören bedeutete für den antiken Menschen eine Daseinsorientierung im höheren Sinne. Der Glaube an eine sinnhaft fassbare Existenz göttlicher Wesen ließ ihn folgerichtig auch in einen Dialog mit ihnen treten. Die Unterteilung in ein visuelles und ein akustisches Primat wurde für ihn bedeutungslos, da die Götter sich ihnen nicht nur optisch, sondern auch akustisch zu erkennen gaben. Die Menschen erlebten die göttliche Welt schauend, lauschend und sinnlich rezeptiv.
Bevor es zum Visualprimat kam, galt lange das Ohr als Sitz des Gedächtnisses – siehe die Naturgeschichte des Plinius. Die Kultur des Sehens entwickelte sich erst im Laufe der Zeit. In seiner „Kulturgeschichte Griechenlands“ machte der Autor Egon Friedell auf die Vorherrschaft des Hörens aufmerksam. Er spricht den Menschen eine fast schon ins Pathologische gesteigerte Empfindlichkeit gegenüber akustischen Erscheinungen zu. Nietzsche war einer der ersten Philosophen der Neuzeit, der der Metaphysik des Sehens misstraute und wieder am „Leitfaden des Hörens zu denken versuchte.“ Später hat er diesen Gedanken aufgegriffen und daraus die "Tragödie aus dem Geiste der Musik" abgeleitet.
Das Hören auf Stimmen begründet eine zwischenmenschliche Gesellschaft. Obwohl es auch bei den vorsokratischen Denkern schon Anzeichen für eine Vorherrschaft des Visuellen gab – z.B. bei Heraklit von Ephesos –, blieb der Einfluss einer oralen Kultur auch später noch erhalten. Die Rhetorik wurde schon angesprochen, und es sei an die zur Musik rezitierenden Dichter erinnert. Mit der Einführung des Alphabets um 700 v. Chr. begann allmählich der Übergang zu einer visuell geprägten Kultur. „Das Auge ersetzte zunehmend Sinn und Symbol des Ohres“. Die Wende ist auf das 4. Jahrhundert v. Chr. zu datieren und besonders auf die Gebiete der Philosophie, der Kunst und der Wissenschaft beschränkt. Der Scheidepunkt ist mit der Lehre von Platon erreicht. Im Unterschied zur philosophischen Prosa seines Schülers Aristoteles schreibt Platon seine Dialoge wie ein Dichter, ist aber in seinen Argumenten der aufkommenden Literalkultur verpflichtet. Die Grundbestimmungen des Seins heißen nun „Ideen“ und gipfeln in einer ausformulierten „Theorie“. Heidegger hat diese Hinwendung Platons zum visuellen Primat gar als Sündenfall der Abendländischen Philosophie bezeichnet.
Es ist deutlich geworden, dass sich das visuelle Primat langsam in den Vordergrund schob. Es ist eng mit der Denkgeschichte verwoben. Darüber hinaus gab es jedoch immer wieder Reflexionen, wie mit der oralen Tradition umzugehen sei. Es ist bemerkenswert, dass die Entstehungszeit des Weihereliefs, welche am Anfang beschrieben wurde, mit dem Wendepunkt zwischen älterer Wort- und Sprachkultur des Hörens und der jüngeren Bild- und Begriffskultur des Sehens von Platon zusammenfällt.
Was bedeutet dies aber für das Hören und was kann in der heutigen Zeit davon berücksichtigt werden? Auditive Wahrnehmung kann auch als ein Hörkonzept gelesen werden, dass heute oder gerade heute wieder an Aktualität gewinnt. Der Akustik, ἀκούειν, liegt im Altgriechischen eine Komplexität zu Grunde, bei der die Tätigkeit des Hörens genau so wie die Eigenschaft eines Zusprechens relevant sind. Heute wird der Terminus als Diziplinbeschreibung – bestehend aus Physik, Architektur und Hörpsychologie – verstanden. Es scheint so, dass er fast ohne das „Ohr“ des Menschen auszukommen vermag. „Akroamatisch“ könnte dieses Wort ersetzen. Es stammt von ακροάομαι, „zuhören“, ab. In der substantivierten Form akróasis bedeutet es das Hören selbst als auch das Gehörte, den Vortrag. Diese Doppelbedeutung von Wahrnehmungsaktivität und Wahrgenommenem weist auf eine Eigenschaft des hörenden Denkens hin, in der die Trennung von Subjekt und Objekt weniger scharf verläuft. Der Begriff des Akroamatischen stellt einen aktiven Zuhörer in den Mittelpunkt, der die in uns liegende Aufmerksamkeit, die menschliche Wahrnehmung als Wahrmachen alles Denkbaren äußerlichen Klanges versteht.
Sonntag, 6. Januar 2013
von Frank Böhme - für Elmar Lampson